Menschenwürde auch für 'EU-Ausländer' - Keine Verweigerung mit Blick auf sicheres Nirgendwo

Inzwischen ein Klassiker in der ALSO-Beratung:

Schritt 1:
Unternehmen lassen sich ihre Arbeit von Menschen erledigen, die ursprünglich aus einem anderen EU-Land stammen und machen verdammt gute Geschäfte damit. Dabei handelt es sich um ein grad in Oldenburg und umzu verbreitetes Geschäftsmodell, das auch zur guten finanziellen Ausstattung der Stadt beiträgt, in der wir leben.

Schritt 2:
Früher oder später setzen diese Unternehmer ihre Arbeitskräfte wieder 'frei', z. B. wenn im Herbst die Grill-Saison zu Ende geht und auch der letzte Jahrmarkt vorbei ist, auf dem sich recyceltes Fleisch als Schaschlik vermarkten lässt. Dann muss das Jobcenter für sie zahlen, wenn es ihm nicht gelingt, dies z. B. durch die Verweigerung der Antragsannahme zu verhindern (wieder ein Klassiker, dem wir in der ALSO-Beratung immer wieder begegnen).

Haben diese Arbeitnehmer_innen weniger als ein Jahr gearbeitet und den Zugang zum Alg II geschafft, streicht ihnen das Jobcenter bisher spätestens sechs Monate nach ihrem letzten Arbeitstag die Hilfe. Selbst wenn die hiervon Betroffenen zuvor jahrelang in anderen Ländern gearbeitet hatten, hieß und heißt es im Jobcenter: Sie könnten doch ihre Heimat zurück. Warum kehren sie nicht einfach dorthin zurück? Dort können Sie doch in Ihre Wohnung, wurde vom Jobcenter.Mitarbeiter gesagt - in eine eigene Wohnung, in eine 'Heimat'? Welche WanderarbeiterInnen haben in ihren herkunftsländern schon noch eine Wohnung?  Und der Bezug zum Herkunftslang steht bei Wanderarbeiter_innen längst nur noch auf dem (Ausweis-)Papier.

Im Kern drückt diese Verwaltungspraxis aus, dass sich Deutschland zwar gern dieser dem Markt ausgelieferten Arbeitskräfte bedient um sich seinen kaum ermesslichen Reichtum schaffen zu lassen. Zugleich verweigert sie sich wo sie kann, Verantwortung für die Existenzsicherung dieser Menschen im Falle der Mittellosigkeit zu übernehmen: Wanderarbeiter_innen - eben Freiwild auf dem europäischen Markt.

In einem anderen Beispiel war es der Stadt Oldenburg in diesem Jahr auch egal, dass ein mit einem Erwachsenen elterlich verbandeltes Kind zur Schule ging. In Folge der Strategie des Aushungerns durch Hilfeverweigerung des Jobcenters musste sein Schulbesuch schließlich und absehbar abgebrochen werden. Diese Strategie wurde weiter verfolgt nachdem das Elternteil, wie im Jobcenter bekannt war, inzwischen arbeitete und damit einen unstreitigen Anspruch auf ergänzendes Alg II hatte (was das Landessozialgericht zwei Monate später auch feststellte).

Derartige Praktiken des Aushungerns hatte die Bundesregierung vor wenigen Jahren bekräftigt, als sie mit einem sog. "Vorbehalt" gegen die Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) die Zahlung von Alg II an nichtdeutsche Erwerbslose verweigert hatte, die sie nicht mehr als Arbeitnehmer des dt. Arbeitsmarktes zählte.

Am vergangenen Donnerstag (3.12.2015) hat sich das Bundessozialgericht nun dieser brutalen Praxis erneut entgegen gestellt. Es entscheid in drei Verfahren zugunsten der Hilfesuchenden. Wiewohl die ausführlichen Urteilstexte noch nicht vorliegen, sind die Informationen des Gerichtes zum Kern seiner Entscheidungen denkbar klar [1 + 2]. Die Gerichtsentscheidungen bedeuten:

  • bei Ausschluss aus dem Alg II (wie z. B. regelmäßig nach einem sechsmonatigen Alg-II-Bezug) sind weiterhin zumindest Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII zu zahlen. Denn nach einem länger als sechsmonatigem Aufenthalt besteht mit einem "verfestigten Aufenthalt" ein Recht auf Sicherung existenzsichernder Leistungen. Das Gericht stellte klar, dass dem Ermessen bei der Entscheidung über Grundsicherungsleistungen zumindest soweit auf Null reduziert ist, dass "regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist".
    Das BSG begründet diese Aussage mit der Systematik des Sozialhilferechts und den Prinzipen des Grundgesetzes, der Menschenwürde und des Sozialstaatsgebotes [Quelle: 2; dort in Nr. 3].
  • es ist in jedem Fall zu prüfen, ob auch bei nichterwerbstätigen Eltern ein Leistungsanspruch besteht [1]. Diesen Anspruch sah das BSG auch bei der Familie aus dem Verfahren beim Europäischen Gerichtshof unter dem Namen "Alimanovic".
    Soweit dort zumindest eines der Kinder eine (Schul-)Ausbildung absolviert, hat dieses Kind einen eigenen Leistungsanspruch, da es das Recht hat sich hier aufzuhalten um so gleichberechtigt weiter zur Schule gehen zu können. Diese gleiche Teilnahme eines Kindes einer Wanderarbeiterfamilie an der Ausbildung in seinem Aufenthaltsland schützt Artikel 10 der EU-Verordung Nr 492/2011.
    Diese EU-Verordnung bezweckt die Schaffung bestmöglicher Bedingungen für die Integration der Familie von Wanderarbeitnehmer_innen im Aufnahmemitgliedsstaat.
    Soweit das Kind noch die Anwesenheit und Sorge des Elternteils benötigt, haben diese sodann ein "abgeleitetes Recht auf Aufenthalt" – mithin einen anderen Grund sich in D aufzuhalten als "nur zur Arbeitssuche" und sind damit auch nicht mehr aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. [Quelle: 2; dort in Nr. 4]
  • Auch wenn es für eine Person mit verfestigtem Aufenthalt noch keine Freizügigkeitsberechtigung gibt, hat der Sozialhilfeträger "zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessensweg zu erbringen", denn der o.g. "Vorbehalt" der Bundesregierung gegen das EFA schließt keine Sozialhilfeleistungen aus, wie das BSG zum Verfahren mit dem Aktenzeichen B 4 AS 59/13 R feststellte [1].
  • Im Falle von Alg-II-Leistungen, die für zurück liegende Zeiten beantragt und bisher vom Jobcenter verweigert wurden, besteht der Anspruch auf Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt des Sozialamtes (nach dem 3. Kapitel SGB XII), hat das Sozialamt also entsprechend zu zahlen. Es darf sich dem nicht mit dem Argument verweigern, dass es bisher von der Notlage nichts gewußt habe, denn es "muss sich hier die Kenntnis (des Jobcenters) zurechnen lassen". Entsprechend wurde der zu dem Verfahren "beigeladene Sozialhilfeträger" zur Zahlung der Leistungen nach dem SGB XII verurteilt. [2; dort dazu unter Nr. 3]

Der Grundgedanke der drei am 3. 12. getroffenen BSG-Entscheidungen ist, dass Menschen, die eine Zeitlang in der BRD "verfestigt" gelebt haben, existenzsichernde Leistungen nicht weiterhin mit Hinweis auf die Rückkehr ins sichere Nirgendwo verweigert werden dürfen.

Mit seinen Entscheidungen konkretisierte das BSG nach eigenen Worten "Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" [1].
Der Leistungsanspruch dieser Menschen stützt sich mithin auf die Verfassung. Dies sei hier hervorgehoben um klar zu stellen, gegen welches Gut z. B. die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Reaktion auf diese BSG-Entscheidungen anschreibt.
Ein EU-Ausländer 'könne bei Erwerbslosigkeit in sein Heimatland zurückkehren und dort Sozialleistungen beziehen' - so sinngemäß die FAZ am 4.12.2015 - und daher bräuchte er vom Jobcenter nur das Geld für ein Ticket ins 'Heimatland', damit sein "Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" gewahrt würde. Dass er dort oft weder über eine Wohnung verfügt, noch diese bekommen kann, unterschlägt das Blatt. Aber die Fragestellung der FAZ zur Berichterstattung über die hier besprochene BSG-Entscheidungen war auch nicht die menschenwürdige Existenzsicherung jedes Menschens, sondern die Frage: "Milliardenkosten durch Sozialhilfe für EU-Ausländer?"
Ich frage: Mit welchem Recht echauffiert sich die FAZ noch über die Dresdner Straße?

Quellen:

[1] Bundessozialgericht, Medieninformation Nr. 28/15 vom 3.12.2015

[2] Terminbericht Nr. 54/15 des Bundessozialgerichtes vom 3. 12. 2015  

Erstellt am: 13.12.2015

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